Wolfram Höll

November 1989: Ganz Deutschland ist im Freiheitstaumel. Die Mauer ist gefallen! Ganz Deutschland? Nein, in einem kleinen Kiez ist man melancholisch – in Kreuzberg. Im West-Berliner Viertel war ein Künstler-Biotop entstanden, von der Weltgeschichte vergessen. Das ist nun vorbei.
Ein akustischer Stadtrundgang durch das Kreuzberg von gestern – und von heute. Besichtigt werden: Das SO36, eine Schnapsfabrik und einstürzende Neubauten, der beste Döner der Achtziger, das Mister Go und the day the world turned day-glo. Mit den Guides Frieder Butzmann und Thomas Kapielski.

Besetzung
O-Töne: Frieder Butzmann und Thomas Kapielski
Regie: Johannes Mayr und Wolfram Höll
Mit Musik von Deutsch-Amerikanische Freundschaft, Throbbing Gristle, Robert Ashley, den Einstürzenden Neubauten, X-Ray Specs und Westbam; sowie Kurzhörspielen von Frieder Butzmann und Thomas Kapielski
Produktion: SRF 2014

Ursendung
5. November 2014, Radio SRF 2 Kultur

Kreuzberger Nächte, W. Höll
West-Berlin, das war in den 80er Jahren der freie Teil der Stadt. Frei vom Joch der DDR, aber auch frei vom westdeutschen Mief.West-Berlin, das war in den 80er Jahren der freie Teil der Stadt. Frei vom Joch der DDR, aber auch frei vom westdeutschen Mief. In diesen Freiräumen breitete sich eine Kunst- und Musikszene aus. Oder eigentlich ganz viele verschiedene Szenen – Punk und Neue Musik, Industrial und Performance, und und und. Ganz unterschiedliche Szenen, die sich dann doch durchmischten. Abends, in der Kneipe, oder bei einem Konzert. Man konnte in’s SO36 gehen, auf ein Konzert der Einstürzenden Neubauten. Da stand man dort vielleicht neben David Bowie im Publikum. Beim Rausgehen dann wird man Zeuge, wie der Künstler Martin Kippenberger von einer Punkerin verprügelt wird. Und im Hintergrund schreit Iggy Pop in einer Telefonzelle: Er hat sich eingeschlossen und kommt nicht mehr raus, doch alle halten das für Kunst. Aber wie ist dieses Biotop eigentlich entstanden? Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollte Berlin weder Teil der (späteren) BRD noch der DDR, sondern von den vier Besatzungsmächten gemeinsam regiert werden. Dieses Vorhaben scheiterte rasch am aufkommenden Kalten Krieg – zementiert in der Berliner Mauer. Während Ost-Berlin nahezu nahtlos in die DDR integriert wurde, behielt West-Berlin bis zur Wiedervereinigung 1990 einen Sonderstatus. Formell war West-Berlin kein Teil der BRD; man sprach von “Bindungen”. Praktisch hiess das: Dieselben Gesetze (vom Bundestag in Bonn beschlossen, in Berlin durchgewunken) und dieselbe Währung (die D-Mark). Gleichzeitig hat die BRD versucht, West-Berlin attraktiv zu machen. Zum Beispiel durch Subventionen: Jeder Arbeitnehmer bekam 8 % Berlinzulage, jeder Betrieb 15 % Investitionszulage. Attraktiv war die Stadt aber auch aus einem ganz anderen Grund – West-Berlin war entmilitarisiert. Hier gab es keine Bundeswehr, und folglich auch keine Wehrpflicht. West-Berlin wurde so zum Sammelbecken: Für Linke und Spinner, für Bewegte und Aussteiger, für Freaks – und für Künstler. Zwei von ihnen waren Frieder Butzmann und Thomas Kapielski. Butzmann ist 1982 beim Festival “Geniale Dilettanten” aufgetreten, Kapielski hat mit Kunsterwerken wie dem Ölschinken Furore gemacht. Und die ganzen Jahre über haben sie Hörspiele produziert, auch zu zweit. Wer könnte besser durch jene Zeit führen als diese beiden?