Leipziger Volkszeitung, Peter Korfmacher
Da werden die Bilder der Kindheit zur Obsession, durchdringen sich Alltägliches und Katastrophe, wird Kochen zum bedrohlichen Gemetzel. Zweite Uraufführung: Wolfram Hölls verstörendes „Und dann“ Nein, Dramatik ist das nicht, Wolfram Hölls (Jahrgang 1986, geboren in Leipzig) „Und dann“. Beim Stückemarkt des Theatertreffens 2012 bekam er dafür den Hörspielpreis. Und in der akustischen Kunst, ist sie gut aufgehoben, diese verstörende Lyrik, die, während sie neu und neu Anlauf nimmt, einen fernen Verlust zu fassen, die Grenzen zur Musik streift. Aber Claudia Bauer gelingt es, unter diesem grandiosen Text eine dramatische Ebene einzuziehen, die ihn nicht nur bebildert oder in Aktionismus auflöst, sondern ihn albtraumhaft räsonieren lässt. Da werden die Bilder der Kindheit zur Obsession, durchdringen sich Alltägliches und Katastrophe, wird Kochen zum bedrohlichen Gemetzel und der Gottesdienst, den der Vater allabendlich zelebriert, indem er den Film der Mutter auf die Fassade des gegenüberliegenden Plattenbaus projiziert, damit sie wenigstens für die Kinder noch da ist, zum Menetekel der Unwiederbringlichkeit. Bauer zeigt eine dämonische Kinderwelt, in der sich Wahrnehmung und Vorstellung durchdringen und wechselseitig verformen. Wenzel Banneyer träumt, fiebert sich bereits vor Vorstellungsbeginn hinein. Im Bett liegt er, schweißgebadet, via Videoprojektion hoch über die Sperrholzwände erhoben, die eine Wohnungswelt begrenzen, in der nichts heil ist: „Ein Vater, zwei Kinder, drei Verlierlinge, vier Plattenbauten, eine Mauer, die keine mehr ist, ein alter Super-Acht-Film, ein neuer, der in den alten geschnitten wird – und dann …“ Bis zur Unerträglichkeit wiederholt Banneyer diese Aufzählung, immer gleich. Bis die Worte in Rhythmus aufgehen und Silben in Klang. Die Bilder, die ihm da durch den Kopf gehen, spiegelt Bauer in die Märchenwelt des Puppenspiels. Groteske Köpfe hat Andreas Auerbach ihr dafür gebaut, unter denen die enorm präsenten Schauspieler, neben Banneyer sind dies Daniela Keckeis, Heiner Kock und Markus Lerch, sich verbergen. Handschuhe mit vier Wurstfingern tragen sie, mit grob aus Pappe gebastelten Requisiten hantieren sie. Ein Spiel, an dem nichts harmlos ist und alles bedrohlich. So bedrohlich wie die überzeichneten Geräusche, so dräuend wie die Schleifen aus Wagners Parsifal, die so hoffnungslos auf der Stelle treten wie dieser Vergegenwärtigungs-Spuk, der kaum länger als eine Stunde dauert, aber sich bleiern aufs Gemüt legt. Großes Theater im kleinen Format. Ausführlicher Applaus. (07.10.2013)
nachtkritik, Ute Grundmann
Und auch die, die fehlt, erscheint nur als Projektion auf der Hauswand: Die Mutter. Sie bleibt ein Bild, bekommt keine Geschichte, keinen Hintergrund. […] Zunächst geht es hoch unters Dach des Schauspielhauses. Hier ist, in den Räumen einer ehemaligen Diskothek, eine neue Spielstätte (und Probebühne) entstanden. Ein kleiner, enger Raum, in den Andreas Auerbach quer einen Kasten gestellt hat, ein Hausgerippe, eine Plattenbauwohnung ohne Platten und Fensterscheiben. Darüber zwei Leinwände, von denen schon beim Einlass ein Mann spricht, “ein Vater, zwei Kinder, drei Verlierlinge, eine Mauer, die keine mehr ist”. Das wiederholt sich als Klangschleife und gibt damit Ton und Thema des kurzen Abends vor: Eine Familie, die zerbrochen ist, der die Mutter fehlt; eine Familie, der die Welt kaputt gegangen ist, in der nur noch die gewohnte Wohnung im Plattenbau so ist, wie sie immer war – doch auch hier gehen seltsame Dinge vor sich. “Und dann” nennt Wolfram Höll sein Stück, ein Titel, der das atemlose, stakkatohafte Erzählen eines Kindes aufnimmt. Das Stück gleicht einer mit der Schreibmaschine getippten Text-Partitur: eine schnelle, spannende Abfolge von Assoziationen, Ängsten, Erinnerungen und Erlebnissen in der Nach-Wende-Zeit. Claudia Bauer nimmt in ihrer Uraufführungs-Inszenierung diesen Rhythmus auf, setzt aber keine reale Szenerie dazu, sondern Verfremdung: In der Wohnung hausen Puppen, Schauspieler mit großen Puppenköpfen und Händen, mit Pinocchio-Nasen. Sie spielen so etwas wie Familie, decken den Tisch, essen Papierschlangensuppe zu Mittag, streiten sich, ob erst der Plattenbau oder erst die Verlierlinge da waren. Darüber immer das Filmbild des Mannes (Vaters?), der sich einen Gletscher wünscht, der alles fortreißt. Stimmen erinnern sich an Klingeln, auf die niemand antwortet, an die “Panzerparadenstraße”, die nun eine “Wagenparadenstraße” ist, auf der West-Autos fahren. Die Stimmen mischen, streiten, erinnern sich, die Figuren erscheinen mal als Puppen, mal im Film. Und auch die, die fehlt, erscheint nur als Projektion auf der Hauswand: Die Mutter. Sie bleibt ein Bild, bekommt keine Geschichte, keinen Hintergrund. Sie ist allein die Fehlende, dort, wo die Kinder-Puppen tapfer sagen, dass sie keine Angst haben, auch wenn sie ihre gewohnte Welt verloren haben. Am Ende ist dann auch der Text nur noch eine Projektion und die Aufführung wird ausgeknipst wie ein Filmprojektor. (04.10.2013)
Theater heute, Franz Wille
Am Ende weiß man alles über diesen kleinen Menschen, ohne dass man deshalb mehr über ihn erfahren hätte, als er von sich selber auch nicht weiß. War’s das? Noch nicht. Und dann gab es nämlich noch «Und dann» (der vollständige Stückabdruck liegt diesem Heft bei). Die Uraufführung von Wolfram Hölls Erinnerungsspur in den Kopf eines vielleicht sechs- bis achtjährigen Kindes, das Mitte der Neunziger in irgendeiner Plattenbausiedlung ohne Mutter mit seinem überforderten alleinerziehenden und vermutlich arbeitslosen Vater samt einem Geschwister gelebt haben muss. Solche Lebensrahmen-Details muss man sich im Text allerdings erst mühsam zusammensuchen oder erschließen, denn «Und dann» kennt nur eine Perspektive: die eines Jungen, der sich seine fremde, neu/alte Umgebung erklären will und die vielen Einzeleindrücke, aus denen sich kein rechtes Sinngebäude ergeben will, mit einem unablässigen «und dann» aneinander klebt. Eine wackelige, lückenhafte Welt aus langen, eintönigen Tagen, verblassenden Vorwende-Erinnerungsresten, täglichen Routinen und zuweilen rätselhaftem Vaterverhalten wird im Kinderkopf notdürftig zusammengeleimt. Da gibt es die seltsamen Findlinge vor dem sonst so rechteckigen Plattenbau; den Vater, der tagelang in seinem Zimmer verschwindet und an einem alten Funkgerät oder Filmprojektor bastelt; Ausflüge in die nahe Stadt mit einer großen Straße, auf der früher einmal im Jahr die Panzer fuhren und jetzt die neuen Autos, die schon alte Autos sind. Dazwischen blitzen Erinnerungen an die Mutter auf, die unerklärbarerweise nicht mehr da ist, an Schlafengehen- und Aufstehenmüssen. Einzelne Phrasen wiederholen sich und spalten sich auf in verschiedene Tonspuren eines inneren Monologs, in Erzählschübe und -Blockaden, in Ungeduld, Langeweile, Staunen und Nachdenken. Wolfram Höll, 1986 in Leipzig geboren, lebt in Biel bei Bern und hat am dortigen Literaturinstitut studiert. «Und dann» entstand während eines Stipendiums am Théâtre Vidy-Lausanne und hat schon ein paar kleinere Preise bekommen, darunter 2012 den Hörspielpreis des Theatertreffen-Stückemarkts. Ewald Palmetshofer schrieb in seiner Laudatio: «Fehlen, Vermissen, Verlust und Tod sind nur indirekt als Störung, Fehler oder Irritation anwesend abwesend.» Der Text umkreist geduldig einen Webfehler im eigenen Lebenssystem, der, weil er zum System gehört, ein blinder Fleck bleiben muss: die behütete Unsicherheit in einer Normalität, deren innere und äußere Maßstäbe diffus bleiben. Wer will, kann darin auch die Erfahrung jener mittlerweile dritten DDR-Generation wiederfinden, die die Wende nur ungenau als Kinder erlebt haben, aber umso genauer die Geworfenheiten, Existenz- und Entwertungsängste ihrer Eltern. Claudia Bauer holt das «Hörspiel» aufs Theater, genauer in die schon erwähnte Diskothek. Über Eck blickt man auf eine in den Raum gekantete Plattenwohnung mit ein paar ausgesuchten Wandlampen, Küchenmöbeln und Deko-Perlen aus dem späten Honeckertum. Aber der punktuelle Scheinrealismus täuscht. Rechts an der Wand wächst ein großes blinkendes Pappmonster mit einer wagenradgroßen Filmspule und vielen seltsamen Schaltern, an denen sich auch herrlich schnarrend drehen lässt. Der dritte Wirklichkeitssender ist ein eher profaner Videoscreen hoch über der Sitzecke, die Direktschalte ins Kinderzimmer. In mindestens drei Perspektiven fächern die Regisseurin und ihre vier Schauspieler – Wenzel Banneyer, Daniela Keckeis, Heiner Kock und Markus Lerch – den Erzählerbericht auf: mal als bedrängenden Monolog zwischen Staunen, Panik und spitzen Freudeausschlägen aus dem Video-Off, dann mit blechernen Stimmen aus riesenmelonengroßen Kindskopfmasken und grotesk wattierten Kostümen frei nach Burattino, der sowjetischen Pinocchio-Variante, die sich drei Mitspieler übergezogen haben. Diese ewig lächelnden, dumpfen Wiedergänger einer heilen Kinderwunschwelt, die längst zerbrochen ist, drängen mit unheimlichem Gleichmut in die Wohnung, um ebenso grundlos wieder zu verschwinden oder leise wippend aus der Küchennische zu grüßen. Dazwischen stumme Sequenzen bei Tisch in gruseliger Behaglichkeit, zu krachenden Essgeräuschen aus den Mündern, während Peer Baierleins Musik sich kalkuliert übersteuert in düster orchestrale Atmosphären loopt. Und immer wieder blinkt verführerisch drohend Vaters monströse Wundermechanik. Zwischen Angstschüben, Gruselkabinett und bescheidener Idylle mit einem kräftigen Schuss David Lynch verorten Claudia Bauer und ihr Team Hölls «Und dann» – nicht ohne kleine Verbeugung in Richtung Vinge/Müllers «Borkman» mit seinen monotonen Ritualen aus ungelüftet gewaltbereiten Kinderzimmern. Am Ende weiß man alles über diesen kleinen Menschen, ohne dass man deshalb mehr über ihn erfahren hätte, als er von sich selber auch nicht weiß. Da war es also doch noch, das ganz Andere. (12/2013)