Hörspielkritik.de, Jochen Meißner
Die daraus resultierende notwendige Genauigkeit scheint man dem Text anzumerken, ebenso wie den Weißraum, durch den sich die Geraden der Schrift ziehen und der dem Hörer eigene Räume der Zuhörkunst eröffnet.Manchmal bedarf es nur weniger Worte, um eine Situation an einen Ort zu binden und zugleich weite Assoziationshorizonte zu öffnen. „Panzerparadenlangenstraße“ ist so ein Wort, „Würfelmittausendstimmendrinnen“ ist ein anderes und „Verlierling“ ein drittes. Was den Menschen ein Findling, ist dem Gletscher ein Verlierling, den er auf seinem Weg vergessen hat. Und dann hat der Mensch um drei Verlierlinge vier Platten gebaut. Keine besonders hohen, aber dafür sehr lange Häuser. Die drei Figuren, zwei Söhne und ihr Vater, in dem Theatertext „Und dann“ des jungen Autors Wolfram Höll, geboren 1986 in Leipzig, wohnen in einem „dieganzestraßelangistes Haus“.
Selbst wenn man in dem Hörspiel die typografischen Wortverkettungen nicht direkt hören kann, so teilen sie sich doch unterschwellig mit. Nicht weil Fabian Busch und Florian Lukas sie so pausen- und zwischenraumlos sprechen würden, sondern weil die Schauspieler sich in die Weltwahrnehmung eingefühlt haben, aus der die Wörter entsprungen sind. Denn es sind Kinder, die ihre Welt zwischen den Plattenbauten so beschreiben. Die Zeit, die sie erleben, ist eine transitorische, die zwischen dem Ende der DDR und dem Beginn des wiedervereinigten Deutschlands.
Eben noch haben sie mit ihrem Vater (Michael Hanemann) an der „Panzerparadenlangenstraße“ die „Panzerparadenlangenstraßenparade“ angesehen, schon ist aus ihr eine „Jedentagwagenparadestraße“ geworden, auf der „Altwestwagen“ nach Osten fahren und wieder zurück. Der Vater, der eben noch in einem, bei der Bevölkerung ziemlich unbeliebten Riesenhaus oder einem „Hausriesen“ (der Stasi oder der Partei?) gearbeitet hat, bastelt jetzt nur noch einem Projektor herum, mit dem er Filmbilder seiner Frau und seiner Kinder an die gegenüberliegende Häuserwand wirft. Falls er nicht mit seinem Funkgerät (eben jenem „Würfelmittausendstimmendrinnen“) in den Äther lauscht, um die Stimme seiner Frau zu finden, die ihm ebenso abhanden gekommen ist wie den Gletschern ihre Verlierlinge.
Wolfram Höll soll den Text zu „Und dann“ auf einer Schreibmaschine verfasst haben, einem Werkzeug, das die Wörter unmittelbar fixiert, ohne die Möglichkeit des schnellen Löschens und Überschreibens. Die daraus resultierende notwendige Genauigkeit scheint man dem Text anzumerken, ebenso wie den Weißraum, durch den sich die Geraden der Schrift ziehen und der dem Hörer eigene Räume der Zuhörkunst eröffnet. Bestimmte literarische Motive tauchen im Text immer wieder auf wie Findlinge in der kargen Gleichförmigkeit einer plangeschliffenen Landschaft. Das Motiv des Plattenbaus als wörtlich genommene Projektionsfläche gehört dazu, ebenso das der russlanddeutschen Spätaussiedler, die als Vater, Mutter, Kind immer zu dritt als eine Art Heilige Familie ein Bild vor sich hertragend prozessionsartig durch die Plattenbausiedlung streifen.
Regisseurin Cordula Dickmeiß hat den Text, den Deutschlandradio Kultur beim „Stückemarkt“ des Berliner Theatertreffens 2012 zum besten „Theatertext als Hörspiel“ gewählt hat, so überzeugend inszeniert, dass man ihn sich kaum mehr auf der Theaterbühne vorstellen kann. Sie hat den Text in seiner Motivstruktur ernst genommen und in ihrer Schauspielerführung auf jeden kindlichen Naturalismus verzichtet. Die so nur im Radio mögliche, sehr transparente Schichtung von Texten und Stimmen zum Höhepunkt des knapp 40-minütigen Hörspiels erzeugt zusammen mit dem suggestiven Sounddesign des Komponisten Tilman Ehrhorn ein dichtes und zugleich luftiges Textgewebe, an dessen Knotenpunkten sich deutsche Geschichte abgelagert hat. „Und dann“ ist der Schluss- und Höhepunkt der Hörspielreihe „Transitraum“, mit der sich Deutschlandradio Kultur an die historischen Umbrüche der Jahre 1989/90 erinnert hat, und es ist eines der besten Hörspiele des Jahres 2012. (04.12.2012)